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Unter Strom - Über Zeiten von Digitalisierung und Träume von einsamen Inseln

Dieser Beitrag ist eine Exkursion in die Welt des Internets. Gerade hier in Kiribati stelle ich immer wieder fest, dass das Internet auch Wandel bedeutet. Wider Erwartung vieler, und so auch meiner, ist jener kleine Inselstaat relativ gut mit der Welt vernetzt. Zwar ist es mir nicht möglich, von hier aus meinen Blog oder zum Beispiel mein Konto selbst zu verwalten, aber an manchen Tagen ist das Internet so gut, um nach Deutschland zu telefonieren oder größere Dateien per Mail verschicken zu können.

(Das Bild, sowie das Gedicht, sind vor etwa genau zwei Jahren entstanden, wobei das Bild den Titel "Abyssal" trägt. Ich habe es dem Beitrag angefügt, da ich es für ziemlich passend halte. Ein Abyssal ist etwas, dessen Tiefe nicht bekannt ist und bis ins Unendliche zu reichen scheint. In den vergangenen Jahrhunderten wurde dieser Begriff aus dem Griechischen für das unerforschte Meer und die Tiefsee verwendet; eine Art Parallele für das Internet, wie ich denke.)

Wellenreiter

Ich bin unsichtbar,

bin hier mein eigen Gesetz,

vergesse nie was einmal war,

Jeder von euch gerät in mein Netz.

Ihr reitet blind auf meiner Welle,

ihr surft taub in meiner Welt,

die Unmündigkeit eure meine Quelle,

Eure Freiheit mein wertvoll Entgelt.

Sieh, nach dir greift meine Hand,

Ich bin grenzenlos, ich bin jedes Land

Ich bin stumm und doch ein Skandal:

Ich bin unser Weg ins Abyssal.

Unter Strom - Über Zeiten von Digitalisierung und Träume von einsamen Inseln

Eine einsame Insel - ein Sehnsuchtsort Vieler. Raus aus dem Lärm, raus aus dem hektischen Alltag und nichts wie weg an einen ruhigen Ort, an dem wir mal wir selbst sein dürfen und nicht mit Anforderungen konfrontiert werden, die uns manchmal mehr Kraft kosten, als wir zur Verfügung haben und uns auch mal über unsere eigenen Grenzen hinaus treiben. Was sagt es also über uns aus, wenn wir von einer einsamen Insel im Nirgendwo träumen? Und was definiert eine einsame Insel überhaupt? Eine Insel, die mitten im nirgendwo liegt und für viele Menschen nahezu unerreichbar scheint, unberührt von der "realen" Welt da draußen? Was ist die "reale" Welt?

Heutzutage läuft alles übers Internet: Telefon, Streaming-Dienste, das Internet-Radio in der Küche, Einkaufen, Geburtstagskalender, Kontakt zu lieb gewonnenen Menschen am anderen Ende der Welt halten, zur Informationsbeschaffung und für vieles mehr. Was ist dann also, wenn sich unser Leben plötzlich unplugged abspielt und wir vom Internet abgeschnitten sind? Kann also auch ein Haushalt mitten in Deutschland allein durch die eigen gewählte Abhängigkeit in der digitalen Welt eine einsame Insel schaffen? Wie viele solcher Inseln müssten wir dann tagtäglich allein in Deutschland vorfinden?

Eigentlich müsste man behaupten, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten, unserem Traum der einsamen Insel etwas näher sein müssten. Trotzdem sehen viele Menschen diese Art der Abgeschiedenheit, wenn sie denn überhaupt eine ist, als störend und als etwas an, das es umgehend zu beseitigen gilt und dass, obwohl unser Traum mit einer Auszeit und mit Ruhe einhergeht. Paradoxerweise ist das Internet in den vergangenen Jahren trotzdem ein treuer Begleiter Vieler geworden; ein Phänomen, welches Wissenschaftler auf der ganzen Welt beschäftigt und die Frage nach dem Warum aufwirft. Auf direkte Nachfrage in meinem Freundes- und Bekanntenkreis höre ich immer wieder die Sorge, etwas Wichtiges verpassen zu können. Man könnte glatt meinen, wir wären vierundzwanzig Stunden am Tag wach. Besorgt darum, ja nicht die neusten Trends und Nachrichten zu verpassen. Achten auf die neusten Posts von Freunden, die wir im wahren Leben nicht Freunde nennen würden.

Andersherum ermöglicht uns das Internet auch Anteil zu nehmen, an den Leben und Schicksalen von weit entfernt. Oscar Wilde sagte einmal "Man sollte Anteil nehmen an der Freude, der Schönheit, der Farbigkeit des Lebens." Etwas, das uns das Internet im modernen Zeitalter möglich macht und sogar über unsere geographische Grenze hinaus. In einer Generation, in der trotz Selfie-Narzissmus Platz bleibt, die Augen offenzuhalten und über den eigenen Horizont hinwegzusehen.

Es besteht nämlich die Möglichkeit, uns als Menschen für Probleme und Konflikte in anderen Kontexten zu sensibilisieren; für Menschen die aus einem ganz anderen Hintergrund stammen, Empathie zu empfinden. Ich selbst kenne jenes Phänomen der Abgestumpftheit und der daraus resultierenden Ignoranz, abends die Tagesschau zu sehen und seien die Nachrichten noch so grausam, die Stimme aus dem Fernseher zu hören, aber nicht wirklich wahrzunehmen. Das Internet hingegen, welches tagtäglich Millionen Menschen ermöglicht, sich mitzuteilen und ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen, ist die wahre Chance, denen über die berichteten Menschen in den Nachrichten ein wahres Gesicht zu geben. Ein Gesicht, welches authentisch ist, mit dem man sich identifizieren und mitfühlen kann. Eine persönliche Geschichte hinter einem Bild auf sozialen Netzwerken kann durchaus mehr bewegen und berühren, als bloße Fakten und Zahlen in der Tagesschau. Obgleich im kürzlich erschienenem Werk "Against Empathy" von Paul Bloom aus zum Teil sehr schlüssigen Argumenten eindeutig gegen die Empathie plädiert wird, da gerade Empathie den erwünschten Frieden durch Selbstjustiz als Akt der Nächstenliebe in weite ferne rücken lasse und man deshalb Abstand davon nehmen sollte, empfinde ich sie als etwas wahnsinnig Wertvolles und als etwas, was den Menschen das Leben im Miteinander erst möglich und sie zu Verbündeten macht.

So gesehen könnte man das Worldwide-Web auch als eine Art Nähmaschine sehen, welche die einzelnen Fragmente zu einem Ganzen schafft. Wie in einer Art Patchworkdecke, in der jedes Element seine Einzigartigkeit bewahrt, aber nur mit allen anderen Elementen komplett, also vollkommen ist. Immer mehr Ländern wird der Zugang zu Internet geschaffen und so erweitert sich das bunte "Flickengebilde" mehr und mehr und wächst in seiner Farbenprächtigkeit.

Vielleicht wird sich die Patchworkdecke irgendwann den Anschein erwecken zu einer einzigen Farbe zu verlaufen, da uns das Internet in vielerlei Hinsicht mit anderen Weltteilen synchronisiert. Doch wäre dieses Zusammenwachsen als Weltgemeinschaft gerade in Zeiten wie diesen, in denen Akzeptanz und Toleranz in unserer Gesellschaft zu versagen drohen, besonders wünschenswert. Kulturverlust muss mit der Synchronisierung keinesfalls einhergehen, da man Heimat nicht einfach hinter sich lassen kann, sodass man nicht unbedingt von einer Gefährdung der Kultur sprechen muss. Es ist also als ein Aneinander-Anknüpfen und als Lernen voneinander zu verstehen.

Wenn wir nun also von einer vernetzten Welt ausgehen, die sogar die kleinsten und unbekanntesten Länder, wie beispielsweise Kiribati mitten im Pazifik, impliziert, bewegen wir uns fern von der ursprünglicher Bedeutung der Abgeschiedenheit und dem eigentlichen stereotypischen Bild, welches wir bei dem Gedanken einer einsamen Insel vor Augen haben. Betrachtet man die Vernetzung aus diesem Standpunkt, leben wir so gesehen in einem riesigen gemeinsamen Zelt, in denen Interessengemeinschaften aus den unterschiedlichsten Hintergründen zusammenwachsen, dieselben Träume und Sehnsüchte haben und abends bevor wir schlafen gehen, den selben Sternenhimmel bestaunen. Wie André Gide zu sagen lobte: "Man entdeckt keine neuen Weltteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren." Es ist unsere Chance, sich und andere neu zu entdecken. Das Internet ist ein grenzenloses, latentes Gebilde. Die Frage, wo es beginnt und wo es endet, ist also mehr als berechtigt. Ebenso, wie so etwas Komplexes, so zerbrechlich und trotzdem gleichzeitig unzerstörbar sein und fortwährend funktionieren kann.

Bei all den genannten positiven Aspekten und Chancen, die das Internet schafft, birgt es auch einige Gefahren, welche uns als Gesellschaft zu spalten drohen, scheinbar ohne dass wir als Einzelperson oder auch als Gesellschaft etwaigen Einfluss ausüben könnten. Rechtspopulismus und Lügenpresse. Begrifflichkeiten, die uns allen bekannt sein müssten. Spätestens nach der Präsidentschaftswahl der Vereinigten Staaten, in dem Donald Trump als Sieger hervorging, wird auch der Begriff Bubble-Funktion in dieses Repertoire sein Platz finden. Dass Wahrhaftigkeit in diesem Zeitalter problemlos mit Feigheit verwechselt werden kann, ist ein ernstzunehmendes Problem. Doch nicht nur der Außenwelt machen wir uns etwas vor, sondern auch wir uns selbst im Inneren. Lediglich wir als Fremde könnten uns selbst fremd und einsam erscheinen, denn das Bild nach außen sagt oftmals etwas anderes über uns aus. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass hinter vielen Profilen, die wir auf Facebook, Instagram und Co tagtäglich mitverfolgen und den Anschein von Leichtigkeit erwecken, eine erschreckende Melancholie dahinterstecken kann. Wir posten Bilder vor glücklichen Momenten, die nicht einmal unbedingt glücklich sein müssen. Man könnte meinen, es sei eine einseitige Welt. Ich selbst zumindest habe noch nie erlebt, dass einer meiner Freunde oder ich selbst ein Foto hochgeladen hätte, dass mich weinend oder verzweifelt zeigen würde. Es sind immer nur die schönen Momente, die ich und viele andere, wiederum mit anderen Menschen teilen möchte. Viele Bilder, die den Anschein von Spontanität erwecken, sind oftmals gestellt und zurechtgerückt. Trotzdem eifern wir solchen Bildern nach; es scheint wie eine Art Konkurrenzkampf zu sein, die schönsten Bilder von allen hochzuladen.

Auch ist es möglich, ein ganz anderes Leben im Virtuellen zu führen. Dies wird mir gerade hier in Kiribati bewusst. In einem Land, in dem es Internet erst seit diesem angebrochenen Jahrhundert gibt und das Moderne auf Tradition trifft. Viele unserer Freunde führen vor den Augen ihrer Eltern und der Familie ein ganz traditionelles Leben. Sprich, sie halten die Knie bedeckt, zeigen sich generell nicht freizügig, gehen nicht auf Partys oder treffen sich nicht mit Jungs. Das Internet allerdings hingegen, welches für die ältereren Generationen etwas völlig Fremdes ist, zeigt, dass Mädchen und Jungen sich von vielen Profilen aus der westlichen, unseren Welt, beeinflussen lassen und sich deren Internetpräsenz auf Facebook oder Instagram sich im internationalen Vergleich nicht wesentlich voneinander unterscheiden lässt. Internet bedeutet also auch Wandel. Wenn man mich fragt, würde ich behaupten, dass ein Generationenkonflikt, zumindest hier in Kiribati, in naher Zukunft unumgänglich sein wird. Spätestens dann wird er Thema sein, wenn die Jugend keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel hat und sie ihr virtuelles Leben im realen Leben durchsetzen möchte.

Wir können sein, wer wir wollen. Sei es nun die einsame Insel oder ein Fisch im großen Worldwide-Web. Es liegt einzig an uns, wie wir diese Quelle der Information und Kommunikation für uns nutzen wollen und unser zukünftiges Miteinander aussehen soll. Die Digitalisierung ist ein unaufhaltsamer Prozess, doch er lässt Raum zur Mitgestaltung. Keine Stimme in diesem Entwicklungsprozess ist dabei weniger wichtig: weder die anonyme Stimme im Internet-Forum, noch die schreiende Stimme auf dem Marktplatz. Es mag eine schmale Gratwanderung sein, was die Wahrhaftigkeit jener Stimmen aus beiden Welten anbelangt, doch bleibt uns bei beiden Kontroversen immer noch der gesunde Menschenverstand beibehalten. Eine gegebene Funktion, die wir weder in der virtuellen, noch in der realen Welt einfach mal eben so abschalten können - und das ist auch gut so.

Abschließend kann ich sagen, dass ich auf Kiribati feststellen muss, dass gerade an diesem abgeschiedenen Ort Einsamkeit keiner geographischen Ursache entspringt - manche, und denen schließe ich mich mit Vorsicht an, gehen sogar soweit und bezeichnen Einsamkeit als Erfindung der sozialen Netzwerke beziehungsweise die des Internets. Eine Aussage, die ich für ziemlich passend empfinde, obwohl es wie gesagt in unserer Hand liegt, doch ist das Internet auch eine große Verlockung in die Einsamkeit. Trotzdem würde ich auf das Internet nicht verzichten wollen, da es, wie bereits aufgezeigt, viele Chancen in sich birgt. Nirgendwo anders habe ich einen Zugang zu einer solch enormen Wissensquelle, die sich stetig erweitert und nirgendwo sonst bin ich wortwörtlich so grenzenlos uns kann von einem einzigen Ort mit einem winzig kleinem elektronischen Gerät in der ganzen Welt unterwegs sein. Selbst auf einer kleinen Insel im Pazifik, auf der es manchmal an den einfachsten Dingen mangelt und man manchmal durch Treibstoffmangel logistisch betrachtet wortwörtlich von dem Rest der Welt abgeschnitten ist, ist Einsamkeit nicht gleich Einsamkeit. Gerade das ist es, was ich an diesem Inselleben so lieb gewonnen habe: Ich brauche mich nicht im Internet mit jemanden zu verabreden oder irgendwo hinzufahren, um mich mit jemanden treffen zu können. Ich geh Einkaufen, ins Kino oder ins Café und treffe immer Leute, die ich kenne oder kennenlerne, um mit ihnen Zeit zu verbringen. Wenn ich dann doch Sehnsucht nach meinen Freunden oder Familie in Deutschland habe, dann ermöglicht mir das Internet, sie anzurufen. Wer behauptet jetzt noch, es gäbe wirklich einsame Inseln?


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