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Was vermisse ich eigentlich?


Nun sind wir schon etwas über zweieinhalb Monate hier und immer wieder werde ich danach gefragt, ob ich denn schon Heimweh hätte. Die Antwort lautet nein, ich habe kein Heimweh. Aber was bedeutet es schon, Heimweh zu haben? Schließlich ist in jenem Wort das Wort "Heim", eine Kurzform für Heimat, enthalten. Oft habe ich mich gefragt, was Heimat zu Heimat macht und was es dafür braucht, einen Ort zur Heimat deklarieren lassen zu können. Der Soziologe Hartmut Rosa meinte einmal, wir sollten anfangen bei Zuhause nicht an einen Ort, sondern an ein Gefühl zu denken. Irgendwie finde ich diese Aussage wahnsinnig interessant und irgendwie kann ich dieser Aussage nur zustimmen. Viel mehr verbinde ich mit einem Ort bestimmte Gewohnheiten und damit bestimmte Menschen und Gefühle. Es klingt doch auch wesentlich schöner zu sagen, dass ich gerade diesen einen Menschen vermisse, anstatt einen bloßen Ortsnamen zu nennen. Orte sind geographisch festgelegt, Menschen nun mal nicht und gerade das macht das Ganze erst viel spannender. Denn es bedeutet zwangsläufig, dass Heimat bzw. Heimweh nicht nur latent vorhanden sein kann. "Heute hier, morgen dort" lässt den Begriff des Heimwehs möglicherweise dadurch komplett neu definieren. Einen bestimmten Ort hätte ich ohnehin nicht nennen können, denn schon lange bin ich nicht mehr nur an einem einzigen Ort zu Hause. Genauso, wie ich Tarawa und somit Kiribati bereits nach der relativ kurzen Zeit ebenfalls ein Stück weit zu Hause nennen darf. Und trotzdem würde ich nicht behaupten, dass man Heimweh haben muss, um zu vermissen. Ganz im Gegenteil, ich vermisse sogar eine ganze Menge: Ich vermisse es, mit meiner Schwester Katzenvideos auf YouTube anzugucken und versuchen, nicht zu lachen. Ich vermisse die Southpark-Marathone mit meinem Lieblings-Italiener und einer lastminute Tiefkühlpizza, genauso wie die Spaghetti-Kochaktionen mit Luka, bei denen irgendwie immer etwas schiefgeht. Ich vermisse aber auch die früheren spontanen Wg-Aktionen oder mit Anna abends um die Häuser zu ziehen, Billard zu spielen, obwohl wir es gar nicht können, die Nächte durchzumachen und am nächsten Morgen gemeinsam pünktlich bei der Arbeit im Kino oder Schule zu sein. Manchmal ist mir auch danach, mit Schlüti eine Woche lang abzutauchen und eine ganze Menge neuer Jutebeutel zu bemalen. Genauso vermisse ich es mit Josie schaukeln zu gehen, wenn es dunkel ist und mit Samira darüber zu diskutieren, ob die Null existieren kann oder nicht. Und Mama: ich vermisse auch deine selbstgebackenen Kuchen, bei denen du dir jedes Mal Mühe gibst, die aber nicht immer zwangsläufig gut schmecken. Eigentlich doch schon ganz schön viele Dinge, die ich vermisse und dieses Liste ließe sich noch um einiges erweitern. Wenn ich aber darüber nachdenke, dass ich nach diesem Jahr wieder irgendwo anders in meinem neuen Zuhause sein werde, dann weiß ich genau, dass mir mindestens genauso viele Menschen und Gewohnheiten einfallen werden, die ich nach der Zeit hier vermissen werde. So gesehen ist Heimat nicht nur etwas Temporäres, sondern viel mehr etwas, was sich im weiteren Sinne langfristig ausbauen und vergrößern lässt. Heimat könnte man dementsprechend auch als verbindendes Netz unter Menschen verstehen, welches sich im Laufe des Lebens immer weiterknüpfen lässt, je mehr Zeit man mit Menschen verbringt und in sein Leben lässt. Ganz egal an welchem Ort man auch ist.


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